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Daniel Leutenegger, Rathausgasse 18, CH-3011 Bern, www.ch-cultura.ch

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"DEANA LAWSON. CENTROPY"

"DEANA LAWSON. CENTROPY"

14.06.2020 Ausstellung in der Kunsthalle Basel, bis am 11. Oktober 2020


Bild: © Deana Lawson, Chief, 2019, Courtesy die Künstlerin und Sikkema Jenkins & Co., New York, US, https://www.facebook.com/kunsthallebasel/photos/gm.755870785150329/10159745881974115

Deana Lawson macht aus Fremden eine Familie. Sie begegnet ihnen auf einem Feld in Jamaika, in einer brasilianischen Favela oder einem Kinderladen in der Bronx. Sie erkundet ihre Nachbarschaft oder bereist die Welt, dorthin, woher die afrikanische Diaspora kam oder wohin sie verbannt wurde, und ist fasziniert von der Präsenz oder dem Stil einer Persönlichkeit, von einem Körperschwung, einer Narbe im Gesicht oder einer Frisur. In diesen Fremden erkennt sie, was sie "gottähnliche Wesen" nennt.

Lawson gelingt es, eine Person nach der anderen zu überzeugen, sie herein zu lassen: in ihre Wohnungen mit all ihren vom Leben gezeichneten Besonderheiten, aber eben auch in ihr Leben. Es besteht eine verschwörerische Intimität zwischen ihnen, die es der Künstlerin ermöglicht, die Personen auf ihren Fotografien majestätisch, eindrucksvoll, höchst sinnlich und ganz im Hier und Jetzt festzuhalten und zugleich die herrschaftliche Souveränität vergangener Leben heraufzubeschwören. Auch wenn diese Kompositionen oft inszeniert sind, die Kraft von Lawsons einprägenden Portraits vom gegenwärtigen Schwarzen Leben ist deshalb nicht weniger ehrlich, intim oder real.

Vom Begriff des Cinema vérité abgeleitet, bezeichnete ein Kritiker diese treffend
als "manipulated vérité" (dt. manipulierte Wahrheit), um damit auszudrücken, dass sich in der Dokumentarfotografie von Lawson Kunstgeschichte, Traditionen der Portraitkunst, Alltagskultur und koloniales Erbe begegnen. Vielleicht war es für Lawson, die im Knotenpunkt der populärsten Bildtechnologien der Spätmoderne aufwuchs, unvermeidbar, Fotografin zu werden. Ihr Vater, der Familienfotograf, arbeitete für Xerox und ihre Mutter für Kodak in Rochester, USA, wo Lawson gross wurde. Ihre Grossmutter reinigte das Haus von George Eastman, Gründer des Kamera- und Filmimperiums.

Artikel
 über die Künstlerin erwähnen diese biografischen Details und suggerieren dabei, dass Fotografieren vielleicht ihr unausweichliches Schicksal war. Genauso wichtig ist dabei jedoch, wie ihre tief verwurzelte Verbindung mit diesem Medium sie zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit den verzerrten Darstellungen von Schwarzen Menschen in den dominierenden Geschichtserzählungen zur Fotografie (wo Schwarze Menschen entweder gar nicht oder nur sehr begrenzt auftauchen) zwang: Wie sehr unterschieden sich doch die Mainstream-Darstellungen von jenen, welche Lawson in den Arbeiterwohnungen der Familie und der Freunde auf privaten Aufnahmen von Männern, Frauen und Kindern erblickte - weder als Stereotypen noch als Platzhalter für soziologische Kategorien, sondern als sie selbst: vollkommen, komplex, mysteriös und triumphierend.

Wie die Aktivistin und Schriftstellerin bell hooks erkannte: "Kameras gaben Schwarzen Leuten, egal welcher Klasse sie angehörten, ein Mittel, mit dem sie vollauf an der Bildproduktion teilnehmen konnten (...) um eine Bilderwelt zu schaffen, die sich den bestehenden Hegemonien entgegensetzte und als visueller Widerstand rassistische Darstellungen in Frage stellte." Es ist Lawsons scharfes, fundiertes Verständnis von der Macht dieser Technologie und ihre Reaktion darauf, die eine wirkungsvolle Komplexität entfesselt: Voller Zärtlichkeit würdigen ihre Bilder Schwarze Alltagskultur, ohne dabei zu beschönigen, dass wenn man über Rassismus spricht, man unausweichlich auch über Klasse sprechen muss. Die Schriftstellerin Zadie Smith liest dies folgendermassen in Lawsons Bildern mit ihren "halb gestrichenen Wänden, fehlerhaften Verkabelungen, blanken Matratzen, Pappkartons mit veralteten Geräten, schmutzigen Sofas, verschlissenen Teppichen, losen Kacheln, kaputten Jalousien (...) Dass sich diese Lebensumstände so sehr ähneln - von New York über Jamaika und Haiti bis zur Demokratischen Republik Kongo - ist schon für sich genommen eine politische Botschaft." Und doch, wie in so vielen von Lawsons Portraits, kann Schwarze Identität weder monolithisch verstanden werden, noch getrennt von der durch ein weiss-dominantes System verursachten Vertreibung, Flucht und Migration, welche People of Color über den gesamten Globus verstreut haben.

deana lawson vera

Bild: Deana Lawson, Vera, 2020
Courtesy die Künstlerin und Sikkema Jenkins & Co., New York, US

In der Kunsthalle Basel-Ausstellung, der ersten in der Schweiz und bisher grössten institutionellen Präsentation ihrer Werke, zeigt Lawson neue Arbeiten, darunter
 eine Gruppe von grossformatigen fotografischen Arbeiten, Hologramme, 16-mm-Filme, ein Video, mehrere Installationen von kleinformatigen Aufnahmen, manche auf Spiegel gedruckt, und mit Kristall bestückten Spiegeln. Jede der grossen Fotografien ist in einem opulenten Rahmen
 aus Spiegelglas gefasst. Dieses normalerweise unwesentliche, nebensächliche Element - der Rahmen - erhält hier eine besondere Bedeutung. Extravagant und elegant zugleich, heben Lawsons Rahmen (einer gar begleitet vom grünen Spektralleuchten eines im Bild eingelassen Hologramms) mit ihrem Spiel aus Spiegelungen und reflektierendem Licht die Abgebildeten auf eine höhere Ebene und stellen eine Verbindung zu etwas Mystischem und Glorreichem her, trotz ihrer bescheidenen Lebensumstände.

Die daraus resultierende Aufladung der Bilder wird durch ihre Grösse - die meisten sind mehr als einen Meter breit - verstärkt. Es wirkt, als ob man geradezu körperlich eingeladen wäre, in die fast lebensgrossen häuslichen Räume einzutreten, aber zugleich wird man auch irregeführt, so eine Rezension: Man wird eingeladen, aber es ist einem nicht erlaubt, zu bleiben. "Wie die einen anschauen!", betont Zadie Smith, sich auf eine bestimmte Fotografie von Lawson beziehend (es könnte aber auch jede andere gemeint sein) und ergänzt, dass sie darin einen Blick erkennt, "der so intensiv ist, dass es die Betrachtenden sind, die sich am Ende nackt fühlen". Mit diesem Gedanken im Kopf könnte man House of My Deceased Lover (2019, dt. Haus meines verstorbenen Liebhabers) betrachten. Eine Arbeit, in der eine junge Frau, nacktund auf den Knien, der Kamera zugewandt, auf dem Bett ihres toten Partners balanciert. Sie ist trotzig herausfordernd und stark, blickt ohne mit der Wimper zu zucken. Kleine Andenken (ein Gebetsbild, Geld, ein Bild von einem grossen Klunker) sind an den Seiten festgesteckt und verwandeln alles in eine Art Altar - und die Protagonistin (egal, wie kaputt der Schrank oder wie ungemacht das Bett 
ist) in eine Göttin oder Heilige, der Anbetung und Verehrung gebührt.

Oder da wäre Axis (2018, dt. Achse), in dem drei Akte, seitlich nebeneinander aufgereiht auf einem Teppich in irgendeinem Haus liegend, direkten Blickkontakt aufnehmen (seltsamerweise auch mit geschlossenen Augen). Das eindrucksvolle Foto erinnert an ein Bild aus der Kunstgeschichte, von dem man denkt, es zu kennen (was man aber tatsächlich nicht tut), und in dem sich die schimmernde Haut und vielfältige Schönheit des Trios (das an Synchronschwimmerinnen auf dem Trockenen denken lässt) wie
 ein Verlauf von Farbtönen auffaltet.

Taneisha's Gravity (2019, dt. Taneishas Schwerkraft) zeigt zwei Frauen im Hinterzimmer einer Kirche - Jacqueline, die exaltiert und souverän wirkt, sich jeder Kamerabewegung bewusst, und Taneisha, deren Augen und Kopf sich scheinbar nicht offen und aufrecht halten können. Sie erscheinen noch einmal in den 16-mm-Filmen in den hinteren Räumen der Ausstellung,
 wo ihre stille, fotografische Version plötzlich zum Leben erwacht und wo ihr flimmerndes Abbild neben einem Hologramm zu sehen ist: Auf Glas gedruckt, eine veraltete Stereoanlage zeigend, nimmt letzteres die Aura eines fast magischen Objekts aus der jüngsten Vergangenheit an, dessen unheimliches Leuchten diese verstummten Utensilien Schwarzer Musikkultur zu elektrisieren scheint.

Dann ist da Chief (2019, dt. Anführer), eine Fotografie, in der sich Vorhänge mit unterschiedlichen Mustern in einem Wohnzimmer bauschen und ein Mann mit gelassenem Blick feierlich auf der Kante eines Veloursofas sitzt, ausstaffiert mit Goldschmuck und einer improvisierten Krone. Obwohl entschlossen in seiner souveränen Haltung, ist sein Königreich vielleicht nicht von dieser Welt oder aus dieser Zeit. An den fleckigen Wänden hinter ihm hängt ein Bild von Jesus Christus und dessen letztem Abendmahl als Wandteppich ... dieser König ist weiss dargestellt. Es ist ein Detail, das die Spannungen, die in so vielen von Lawsons Arbeiten zutage treten, auf den Punkt bringt.

Die Figur aus Chief taucht auch in Lawsons Video auf, das historisches und zeitgenössisches Material miteinander verbindet, indem es gefundenes Bildmaterial von äthiopischen Militärmärschen aus den 1930er-Jahren zeitgenössischen afroamerikanischen Jugendlichen gegenüberstellt, die Gesten ausführen, die ihre Bandenzugehörigkeit bezeugen, oder es wird eine Feier gezeigt, die den historischen Wurzeln der Aschanti und ihren goldenen Ritualen gilt, die dann auf die ostentativen Klunker der Hip-Hop-Kultur trifft - diese und andere Gegenüberstellungen zeigen unterschiedliche afrikanische Kulturen wie durch ein unsichtbares, aber unauflösbares Band verbunden, das Zeit und Raum überwindet. Es ist die Verkörperung dieser vergangenen majestätischen Erhabenheit, die sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung zieht.

Jedoch drängt sich auf, dass sogar (vielleicht sogar besonders) das Majestätische in Gefahr ist: Lawson räumt ein, dass sie sich dafür entschieden hat, im Hauptraum der Ausstellung die Fotografien ihrer Familie aus Fremden "zu ihrer eigenen Sicherheit", wie sie sagt, relativ "nah beieinander" zu hängen, da so viele von ihnen durch den transatlantischen Sklavenhandel früherer Epochen getrennt wurden, eine Geschichte untrennbar von der Tatsache, dass heute so viele Schwarze Leben genommen werden.

Lawsons versammelt ihr Ensemble unter dem Titel Centropy, was in unserem gegenwärtigen Moment auf eigentümliche Weise nachklingt. Wenn Entropie davon spricht, wie sich die Dinge im Chaos auflösen, beschreibt Centropy das Gegenteil, nämlich die Elektrifizierung von Materie, die zu schöpferischer Erneuerung und Ordnung führt.

Während diese Ausstellung aufgebaut und öffentlich zugänglich wird, entflammt in den gesamten USA Wut und Entrüstung darüber, dass ein weiteres Schwarzes Leben (nach unzähligen anderen) durch die Hände eben jener Menschen und Systeme verloren ging, die ihm eigentlich hätten dienen und es schützen sollen.

Die Ausstellung findet zudem inmitten einer globalen Pandemie statt, die unverhältnismässig stark diejenigen trifft, deren rassistische Klassifizierung, Gesellschaftsklasse oder Sexualität sie bereits benachteiligt und sie erneut einem höheren gesundheitlichen und ökonomischen Risiko aussetzt.

Gegenwärtig ist die Botschaft von Centropy umso dringlicher. Gerade in einer Zeit, in der die Verwundbarkeit der Gemeinschaften, die Lawson fotografiert, auf so tragische Weise offenbart wird, mahnen uns ihre würdevollen und strahlenden Darstellungen des Schwarzen Lebens daran, nicht wegzuschauen.

Deana Lawson wurde 1979 in Rochester, US, geboren; sie lebt und arbeitet in New York.

Elena Filipovic

Kontakt:

https://www.kunsthallebasel.ch/exhibition/deana_lawson/

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