"FRIEDRICH DÜRRENMATT – DAS GROSSE FESTMAHL"
05.11.2019 Ausstellung im Centre Dürrenmatt Neuchâtel, bis am 22. März 2020
Bild oben: Friedrich Dürrenmatt, Kritiker, 1968, 21 x 14.5 cm, Sammlung Beatrice Liechti
Eine Fülle an ausschweifenden Banketten, Beschreibungen ausgefallener Gerichte - «am Spiess gebratenes Osterlamm, gefüllt mit kleinen Strassburgerwürstchen, gebackenen Lerchen und dem Bries vorzeitig geborener Kälber» - und Aufzählungen von Jahrgangsweinen: Essen und Trinken ist in Dürrenmatts Bildern und Büchern von grosser Bedeutung. Die Ausstellung beleuchtet das Themenfeld von Speis und Trank entlang seines Werks und seines Lebens. So zeigt die Ausstellung die Reichhaltigkeit eines Motivkomplexes auf, der sich als vielgestaltiger und bedeutender erweist, als es zunächst scheint.
Symboliken des Festmahls: Gerechtigkeit, Religion, Kannibalismus
Wenn in Szenen Gerichte und Getränke vorkommen, sind auch Humor und Witz wiederkehrende Merkmale. Die Physiker etwa richten ihre volle Aufmerksamkeit auf das Tagesmenü, obschon einer von ihnen eben einen Mord beging. Und die Gemüseverkäuferin im Stück Es steht geschrieben verkauft derb scherzend ihre Radieschen, ungeachtet der Hinrichtung, die in ihrer Nähe stattfindet.
Der Motivkreis um Essen und Trinken weist auch mehrere symbolische Ebenen auf. In dieser Ausstellung liegt der Fokus auf den Symboliken, die im Zusammenhang mit Gerechtigkeit, Religion und Kannibalismus stehen.
Die Essensszenen bei Dürrenmatt dienen oft als Rahmen für Darstellungen von Selbstjustiz und von eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen. Die Diskrepanz zwischen dem Ernst einer Gerichtsverhandlung und der Alltäglichkeit des gemeinsamen Mahls erzeugt eine bleibende Spannung. Wie zum Beispiel in der Panne, wo ein Festessen die gespielte, in ihren Folgen aber sehr reale Gerichtsverhandlung begleitet.
Viele Essensszenen in der Bibel sind mit Offenbarungen verbunden. Bei Dürrenmatt, Sohn eines Pfarrers, sind sie oft mit der erkennenden Einsicht einer Figur verbunden. In Der Richter und sein Henker ist es Tschanz, der während eines Abendessens realisiert, dass er in eine Falle geraten ist.
Das Thema Kannibalismus schliesslich umfasst hier verschiedene Bilder: Die Figur des Wilden (der Menschen fressende Barbar aus den Kindergeschichten), die «kannibalische» Symbolik in der katholischen Form des Abendmahls, der Kannibalismus aus Liebe (in Die Wurst wird ein Mann beschuldigt, seine Frau «verwurstet» zu haben), der Kannibalismus aus Rache (den Theaterkritikern gegenüber), und auch das Verhältnis von Mensch und Monster.
Bild: Friedrich Dürrenmatt, Weihnachtsfest in Rom, 1988, 70 x 99 cm, Sammlung Centre Dürrenmatt Neuchâtel © CDN/Schweizerische Eidgenossenschaft
Die Tragik hinter der Maske des Komischen
Auch wenn der Humor und das Groteske stets präsent sind, taucht doch immer auch das Tragische auf. Wie in der Panne, die in geselliger Spielstimmung beginnt, am Ende aber eine tödliche Wendung für den Hauptcharakter nimmt. Durch die Tragik, die hinter der Maske des Komischen hervortritt, verdichtet die Thematik der Ausstellung grundlegende Motive Dürrenmatts und versieht sie mit einer anregenden Glasur.
Das Bild des Genussmenschen Dürrenmatt
Die Allgegenwart von Essen und Trinken in seinen Werken lässt vermuten, dass Dürrenmatt ein Liebhaber guten Essens war. Auch seine Liebe zum Wein ist mitverantwortlich für das Bild des Genussmenschen Dürrenmatt, soll er doch in seinem Keller die grossen Weine aus seinem Stück Die Panne gelagert haben. Sein Verhältnis zu leiblichen Genüssen entpuppt sich aber als komplexer. Der Diabetes zwang ihn, seine Ernährung streng zu kontrollieren. Gemäss einer Vertrauten fand er in seinen Fiktionen ein Mittel, die aufgezwungenen Entbehrungen zu kompensieren.
Eine multidisziplinäre Ausstellung
Die Ausstellung zeigt neben Werken Dürrenmatts - etwa seine Karikaturen zum Schweizer Wein, den er mittelmässig fand - auch Arbeiten anderer KünstlerInnen, die für gelingende Adaptionen seine Werke gewissermassen verdauten: TheaterregisseurInnen brachten seine Stücke auf die Bühne, FilmemacherInnen bearbeiteten seine Texte, und bildende KünstlerInnen verliehen seinem gastronomischen Universum in ihren Arbeiten Gestalt.
Die Neuenburger Filmemacherin Orane Burri realisierte auf Einladung des CDN einen Kurzfilm mit Raphaël Tschudi. Der Film handelt vom gewaltigen Festmahl eines Täuferkönigs, der seinen Untertanen Genügsamkeit predigte. Dominique Kähler Schweizer, alias Madame Tricot, kreierte für die Ausstellung eine Kunstinstallation des Festessens in der Panne - Schildkrötensuppe, Kalbsnierbraten, Käse und Schokoladentorte -: Ein eindrückliches Werk an der Grenze zwischen Realismus und Fantasie.
Veranstaltungen bieten Nahrung für Seele, Geist und Leib
Jede Veranstaltung des Begleitprogramms vereint Kunst, Kulturvermittlung und Kulinarik: So sind Theateraufführungen, Poesie-Performances und Lesungen einerseits mit einer Führung oder einer Diskussionsrunde verknüpft, und andererseits um eine Mahlzeit ergänzt, die von der Ausstellung inspiriert ist.
Im November 2019 veröffentlicht das CDN zwei neue Publikationen in der Reihe Cahiers du CDN: Ein Cahier zur Ausstellung mit Beiträgen von Madeleine Betschart, Pierre Bühler, Lucas Gisi, Mondher Kilani und Duc-Hanh Luong, sowie ein Cahier mit François Loebs Erinnerungen an Friedrich Dürrenmatt.
cdn
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Bild: Dominique Kähler Schweizer, alias
Madame Tricot, Festmahl
für Die Panne,
Wolle. - Foto: Daniel Ammann